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Bürgerstiftung für verfolgte Künste

Karl Kunz – Fantastische Körper: Ausstellungstexte

Dies sind die Ausstellungstexte zu "Karl Kunz – Fantastische Körper"

27.11.2025 bis 8.2.2026, Zentrum für verfolgte Künste

Autorin: Dr. Katharina Günther

Karl Kunz, Dame um 1900, Mai 1951, Öl mit Collage auf Hartfaser, 136 x 120 cm, gezeigt mit freundlicher Genehmigung des Nachlass Karl Kunz Berlin

EINLEITUNG

Die Figuren in den Gemälden des deutschen Malers Karl Lorenz Kunz (1905–1971) sprengen die Grenzen der menschlichen Anatomie, finden sich in unwirklichen, traumartigen Szenerien wieder und lösen sich bis zur Abstraktion in Farbflächen auf. Kunz‘ lebendige, bunte, überbordende Körperwelten sind stark vom Surrealismus beeinflusst, zeugen aber auch von seinem Interesse für zeitgenössische Künstler wie Pablo Picasso, Oskar Schlemmer und Max Ernst. Seine Gemälde faszinieren und verstören, begeistern und machen nachdenklich. Immer laden sie zu einem anregenden Spaziergang durch Kunz‘ außergewöhnliche Imaginationslandschaften ein.

Die Karriere des jungen Malers wurde harsch vom Terrorregime der Nationalsozialisten unterbrochen, als er 1933 seine Verbindung mit der damaligen Staatlich-städtischen Kunstgewerbeschule Burg Giebichenstein in Halle (Saale) auflösen musste. Bis zum Ende des 2. Weltkriegs konnte er nicht öffentlich ausstellen und führte seine Kunst im Verborgenen aus. Trotzdem entwickelte Kunz sich zu einem der innovativsten deutschen Figurenmaler der Nachkriegszeit. Obwohl er bereits kurz nach Kriegsende wieder ausstellte und an wichtigen Schauen wie der „Allgemeinen Deutschen Kunstausstellung“ in Dresden 1946 und der 27. Biennale in Venedig 1954 teilnahm, konnte er sich nicht mehr dauerhaft etablieren.

Kunz‘ Schicksal ist typisch für Künstler:innen dieser Zeit. Der Maler gehört der sogenannten „verschollenen Generation“ an, der das Zentrum für verfolgte Künste mit seiner Arbeit eine Plattform bieten möchte. Der Kunsthistoriker Rainer Zimmermann, der diesen Begriff prägte, zählt dazu jene Kunstschaffende, die vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten aufgrund ihres jungen Alters noch kein großes Œuvre vorzuweisen hatten, nur kleinen Kreisen bekannt und während der Kriegsjahre zur heimlichen Arbeit gezwungen waren oder deren Werk im Krieg zerstört wurde.[1] Typisch ist – wie auch bei Kunz der Fall – das kurze Auftauchen aus der Vergessenheit nach 1945, nur um ebenso schnell wieder von der Bildfläche zu verschwinden: Erst wurde die Gruppe von aufstrebenden jungen Kolleg:innen verdrängt, dann vom Wiedererscheinen der Vorgängergeneration.[2]

Zu ihren Ungunsten fehlten im Nachkriegsdeutschland auch die alten Akteur:innen des Kunstbetriebes – von Kunstzeitschriften bis zu Kunsthändlern – die diese Generation in den 1920ern gekannt und unterstützt hatten.[3] Einflussreiche Kunsthistoriker der Nachkriegsjahre wie Will Grohmann und Werner Haftmann – beide waren an der Konzeption der ersten documenta in Kassel beteiligt – schätzten Kunz‘ Arbeit nicht. Haftmann schrieb 1954 „durch die Entwicklungen in der expressiven und abstrakten Malerei [wurde der figurative Surrealismus] in seiner Substanz aufgezehrt.“[4] Zudem entsprachen Kunz‘ figurative Gemälde nicht mehr dem Zeitgeschmack. Die Kunstszene konzentrierte sich nun auf die Vorkriegsabstraktion, wandte sich verstärkt aber auch neuen ungegenständlichen Tendenzen aus Frankreich und den USA zu.

Als Folge ist Karl Kunz kaum bekannt und nur lose im kunsthistorischen Kanon verankert. Er stellt darum heute eine echte Wiederentdeckung dar. „Fantastische Körper“ zeigt, warum es sich in unserer Zeit lohnt, in das ganz eigene Bilduniversum des Malers einzutauchen und diesen spannenden Künstler neu zu sehen und zu bewerten. Mit einem frischen Blick erkundet sie mit 36 Gemälden die Originalität und Innovationskraft von Kunz' Malerei am Beispiel seiner Figurendarstellungen – dem Brennpunkt seines Interesses. In acht Sektionen, die alle charakteristische Aspekte seines Werkes behandeln, wirft die Ausstellung Schlaglichter auf seinen Zugang zur menschlichen Gestalt. Sie beschäftigt sich mit dem Ursprung von und der Inspiration für Kunz‘ Figuren, seinem Frühwerk und dem Umgang mit kunsthistorischen Referenzen. Sie erkundet die spannungsvollen Beziehungsgeflechte auf seinen Leinwänden und zeigt seine fantastischen Figuren, denen Eros und Vergänglichkeit gleichermaßen eingeschrieben sind, im Raum zwischen Realität und Unbewusstem und am Rande der Ungegenständlichkeit.

[1] Vgl. Rainer Zimmermann, „Die vergebliche Heimkehr des verlorenen Sohnes. Kurzes Auftauchen aus dem Untergrund: Die Maler des Expressiven Realismus im Deutschen Kunstleben der Nachkriegszeit (1945–1959)“, in: Zwischen Krieg und Frieden. Gegenständliche und realistische Tendenzen in der Kunst nach 1945, Frankfurter Kunstverein (Hg.), Berlin 1980, zur Ausstellung gleichen Namens, Frankfurter Kunstverein, 1980, S. 31-35. Kunz wird hier zusammen mit Otto Dix, Edgar Ende, Conrad Felixmüller, Willi Geiger, Willem Grimm, Erich Heckel, Albert Heinzinger, Werner Heldt, Karl Hubbuch, Hans Kralik, Dore Meyer-Vax, Gerhard Marcks, Willi Küpper, Ernst Schumacher, Franz Radziwill, Otto Pankok, Anton Räderscheidt, Rudolf Schlichter, Ernst Schumacher und Toni Stadler ausgestellt; Siehe auch Rainer Zimmermann, Expressiver Realismus. Malerei der verschollenen Generation, München 1994.

[2] Vgl. Zimmermann 1980.

[3] Vgl. Ibid.

[4] Werner Haftmann, Malerei im 20. Jahrhundert, München (1954) 2000, S. 439.

BIOGRAFIE

Karl Lorenz Kunz wird 1905 in Augsburg geboren. Als Jugendlicher bekommt er privaten Malunterricht von dem Künstler Gustav Schmidt. 1921 – gerade einmal 16-jährig – bewirbt er sich erfolglos um die Aufnahme an der Kunstakademie München. Er bildet sich autodidaktisch in der bayerischen Landeshauptstadt weiter, studiert etwa die herausragenden Sammlungen der örtlichen Museen, und besucht sporadisch die Hans Hofmann Schule für Bildende Kunst.

Als junger Mann reist er nach Italien und durchwandert dreimal Sizilien.

1927 zieht Kunz nach Berlin. Dort hilft er dem Künstler Hermann Sandkuhl 1928 und 1929 bei der Organisation von zwei „Juryfreien Kunstschauen“ im Lehrter Bahnhof, an denen er selbst teilnimmt. Kunz‘ Karriere nimmt Fahrt auf.

Ab 1930 ist Karl Kunz Meisterschüler und Assistent bei Erwin Hahs, Professor an der Kunsthochschule Burg Giebichenstein in Halle. 1931 nimmt er an der überregional beachteten Ausstellung „Hahs und sein Kreis“ im Stadthaus Halle teil. Nach kreativen Disputen mit dem Direktor der Burg, Gerhard Marcks, bleibt er Hahs und der Kunsthochschule zwar verbunden, zieht sich aber 1932 aus der Werkstattarbeit zurück. Er unterhält jetzt sein eigenes Atelier in der Stadt. Im selben Jahr heiratet er die Historikerin Ilse Lack. 1933 schließen die Nationalsozialisten Hahs‘ Malereiklasse – auch Kunz‘ Zeit in Halle kommt so zu einem jähen Ende. Ilse Kunz berichtet von ernsten Repressalien durch die neue Regierung. Kunz geht zurück nach Augsburg und übernimmt den elterlichen Holz- und Furnierhandel. Seine Karriere als Künstler kann er zunächst nicht fortführen.

Mitte der 1930er kauft das Ehepaar Kunz ein Waldgrundstück mit Haus nahe Augsburg. In der Abgeschiedenheit und der erzwungenen Isolation vom Kunstbetrieb unter der Regierung der Nationalsozialisten sah der Maler trotz aller Entbehrungen und den Schrecken des Krieges eine Chance für seine künstlerische Entwicklung.

„Die 12 Jahre ,Drittes Reich‘, in denen ich keinen Zuschauer, keinen Ja- u. keinen Neinsager hatte, gaben mir die Möglichkeit, trotz meines Geschäftes, meine entscheidende künstlerische Entwicklung zu durchlaufen. Nie war ich als Maler – nicht als Bürger – glücklicher als in dieser verbotenen Zeit … “ Kunz in einem Brief an Norbert Lieb, Leiter der städtischen Kunstsammlungen Augsburg, 6. August 1953

Wegen einer Herzerkrankung musste Karl Kunz während des Zweiten Weltkrieges nicht an die Front, sondern arbeitete im Luftschutz als Sanitäter des Sicherheits- und Hilfsdienstes in Augsburg. Zum Malen kam er kaum. In der Nacht vom 25. auf den 26. Februar 1944 legten amerikanische und britische Bomber die Stadt bei einem verheerenden Angriff in Schutt und Asche. Dem fiel nicht nur sein Elternhaus zum Opfer, sondern auch der größte Teil seiner Arbeiten. Viele Werke existieren heute nur noch als Abbildung.

Nach Kriegsende wird Kunz sofort wieder ausgestellt und ist 1945 Teil der Gruppenausstellung "Malerei der Gegenwart" im Schaezlerpalais Augsburg. 1946 steuert er Arbeiten zu der wichtigen „Allgemeinen Deutschen Kunstausstellung", Stadthalle Nordplatz in Dresden, bei. 1947 organisiert er gemeinsam mit anderen Künstlern in Augsburg die Ausstellung „Extreme Malerei“. Ab diesem Jahr arbeitet er als Lehrkraft an der Staatlichen Schule für Kunst und Handwerk des Saarlands Saarbrücken, wird aber 1949 bereits aufgrund von Sparzwängen und nach Streitigkeiten mit dem Direktorium von seinem Posten entbunden. Nachdem auch Ilse Kunz ihre Stelle als Lehrerin verliert, gerät die Familie in finanzielle Not. 1949 nimmt Kunz an der „Zweiten Deutschen Kunstausstellung“ in Dresden teil. 1951 wird ihm der erste Domnick-Preis verliehen, gestiftet von dem Psychologen Ottomar Domnick.

1953 lässt die Familie Kunz sich in Weilburg an der Lahn nieder, wo Ilse Kunz eine Stelle als Lehrerin antritt. Zum Abschied erhält Kunz eine Ausstellung im Augsburger Schaezlerpalais und die Stadt kauft sieben Gemälde für ihre Sammlung an.

1954 erreicht Kunz den vorläufigen Höhepunkt seiner Karriere: Zusammen mit Künstlern wie Oskar Schlemmer und Paul Klee vertritt er Deutschland auf der Biennale in Venedig. Trotzdem bleiben der Durchbruch und der finanzielle Erfolg aus. Ab 1957 finanziert seine Frau ihm ein Atelier in Frankfurt am Main, doch zur lokalen Kunstszene findet er keinen Zugang. 1959 bis 1960 ist Kunz als Gastdozent zurück an der Staatlichen Schule für Kunst und Handwerk in Saarbrücken, kündigt allerdings nach drei Semestern. Die weite Fahrt aus Frankfurt strengt den gesundheitlich angeschlagenen Künstler zu sehr an und die Stelle lässt ihm kaum Zeit für seine eigene Malerei.

1959 erhält Kunz die Einzelausstellung „Karl Kunz: Gemälde und Graphik“ in der Kunsthalle Darmstadt.

Während der 1960er Jahre unternimmt Kunz viele Reisen nach Spanien, Frankreich und Italien, auf denen er exzessiv mit Bleistift und Pastell zeichnet. So fährt er Anfang des Jahrzehnts nach Paris, wo er unzählige Skizzen in den Schlachthöfen der Stadt in La Villette anfertigt.

1968 sind seine Werke in der Ausstellung „Menschenbilder“ in der Kunsthalle Darmstadt zu sehen. 1969 ist er drei Monate lang Ehrengast der Villa Massimo in Rom, die ihm 1970 eine Einzelausstellung widmet. Trotz allem kann er sich nicht im Nachkriegskanon etablieren. Kunz vereinsamt und kämpft mit seinem zusehends schlechten Gesundheitszustand. Von der Ablehnung des zeitgenössischen Kunstwelt ist er tief getroffen.

Kunz verstirbt 1971 in Frankfurt am Main.

„… Ich hatte ein bewegtes und anstrengendes Leben zu führen und bin heute noch vielen Erlebnissen, Erfahrungen und Erschütterungen ausgesetzt. Ein Mann, der wie ein Spürhund durch dieses Leben streift, durch die Prachtstraßen der Großstädte und durch die dunkelsten Gassen, immer bereit zum Abenteuer und immer bereit sich vom Schönen und Reinen zu Tränen rühren zu lassen. Ein wildes Arbeitstier und ein Mann, der in Gedanken lebt, … ein Mann der Assoziationen.“ – Brief von Karl Kunz an eine Brieffreundin, 17. Oktober 1966

Karl Kunz hinterlässt ein reiches Œuvre aus 600 Gemälden, von denen aus den frühen Jahren allerdings oft nur Abbildungen erhalten sind, und über 800 Zeichnungen. Ein Werkverzeichnis erscheint 2015. Zu Lebzeiten verkaufen sich seine Werke schlecht und er ist in nur wenigen Museumssammlungen vertreten. Dem Einsatz seiner Nachfahren ist es zu verdanken, dass Karl Kunz inzwischen in bedeutenden Sammlungen, wie der des Museum Folkwang in Essen, der Neuen Nationalgalerie in Berlin und dem Wuppertaler Von der Heydt-Museum zu finden ist. Wichtige posthume Gruppenausstellungen sind „Zwischen Krieg und Frieden. Gegenständliche und realistische Tendenzen in der Kunst nach 1945“, 1980 im Frankfurter Kunstverein und „Stationen der Moderne“ im Walter-Gropius-Bau Berlin 1988/89. 1997 widmet der Hallesche Kunstverein in Halle (Saale) ihm eine Einzelausstellung. 2014 zeigt das Von der Heydt-Museum Wuppertal eine umfassende Werkschau.

"Den Betrachtern meiner Bilder fällt immer wieder auf, wie sehr kontinuierlich meine Arbeit verläuft. Ich habe nie Sprünge gemacht und mich von keinen Ismen und Tendenzen verführen lassen. Dabei schaute ich neugierig und gespannt nach allen Seiten. Ich habe an Dingen, die äußerlich gesehen, nichts mit meiner Arbeit zu tun haben, viel gelernt. Ich bin Autodidakt. Somit war ich immer auf das genaue Studium der Werke anderer angewiesen. Ich bilde mir ein, daß ich ein Werk gebe, das eine Entsprechung zu dem ist, was das Leben mir zuführte, und mir antat, im Guten wie im Schlechten. Es war ein Leben voll Grausamkeit, Mord und Wahnsinn, aber auch voll von Liebe, Süße und Schönheit. Und so bunt, so voll von Spannungen und Widersprüchen mochte ich mein Werk wissen.“ Brief von Karl Kunz an René Hocke, 5.3.1971

KÖRPERQUELLEN

Die Figur ist das Zentrum von Karl Kunz‘ Malerei. Sie ist der gemeinsame Nenner des Künstlers und seines Publikums und aller Betrachtenden seiner Werke. Mit ihrer Hilfe vermittelt Kunz seine Inhalte von kunstimmanenten und politischen Botschaften bis zu persönlichen Erlebnissen. Er drückt mit seinen Figurendarstellungen die Conditio humana, den Zustand des Menschseins in seiner Zeit aus.

Überlange, sich verjüngende Gliedmaßen, die mancherorts an kalligraphische Pinselschwünge erinnern, stark abstrahierte Körper, die oft geometrischen Formen näherstehen als organischen, und immer wieder flächige Formen sind für Kunz typisch. Seine Darstellung der Figur ist jedoch keineswegs einheitlich und kann innerhalb eines Gemäldes, ja innerhalb einer Gestalt unterschiedliche Formen annehmen. In Collage mit weiblichen Akten, 1961, zeichnet der Maler den Körper des Stehenden als abstrakt-ornamentale und monochrome Silhouette, aber Teile der Schulter sind farbig und malerisch ausgearbeitet. Er ist kein Fleischmaler, der seine Körper mit dick aufgetragener Ölfarbe auf der Leinwand nachbildet, sondern seine Figuren stützen sich auf die Silhouette. Dass diese nicht immer der Natur entspricht, ist Teil seines künstlerischen Konzepts:

„Die ,Deformationen‘ meiner Akte bedeuten eine Metamorphose der Figur zur Figuration. Und außerdem eine Vermählung von Zeichnung und individueller Schrift. Ich bin kein Fotograf, kein Abbilder. Der Gegenstand, gleich welcher Art, bedeutet für den schaffenden Künstler Anregung, Impuls und Absprung zu einer freien künstlerischen Gestaltung, zu individuellen Form- und Farbphänomenen …“, erklärt Karl Kunz einer Freundin in einem Brief vom 2. Juni 1967.[1]

Wahr ist allerdings auch, dass Kunz während des Krieges Tote aus den Trümmern Augsburgs bergen musste,[2] was sicher in sein Verständnis von Körpern und deren Integrität einfloss.

Kunz war ein begabter und anerkannter Zeichner. Mit Feder oder Bleistift hielt er manchmal rasch in „Drei-Minuten-Akten",[3] manchmal detailreich und präzise seine Figuren fest. Bezeichnenderweise fehlt diesen oft der Kopf – seine Körperbilder sind für Kunz allgemeine Chiffren und keine Porträts individueller Personen. Einige dieser Zeichnungen nutzte er als Vorlagen für seine Körperdarstellungen. In Werken wie Collage mit weiblichen Akten, klebte er eine Zeichnung direkt auf die Leinwand. In andere Gemälde, so in Damenbildnis, 1964, integrierte er im Collage-Verfahren Fotografien oder Bilder aus Magazinen und Zeitungen. Manchmal übernimmt er von diesen ‚fremden‘ Quellen Bildelemente und formt sie in Öl auf seiner Leinwand neu aus. Für wieder andere Figuren – so auch die stehende Figur in Damenbildnis - nutzte er Schneider- und Schaufensterpuppen als Anregung, die er in seinem Atelier sammelte. Die langen, gleichförmigen Gliedmaßen, die schmale Taille und der kurze Oberkörper verraten den bildlichen Ursprung dieses Aktes.

[1] Karl Kunz. Malerei 1921–1970, Jo Enzweiler (Hg.), Saarbrücken 2015, S. 316.

[2] Vgl. Karin Thomas, „Karl Kunz – neu entdeckt“, in: Ausst.kat, Karl Kunz (1905-1971), Antje Birthälmer, Gerhard Finck (Hg.), Von der Heydt-Museum Wuppertal, 2014, S. 14–57, S. 24.

[3] Renate Miller-Gruber im Katalog Karl Kunz/ Großes Welttheater, Gedächtnisausstellung zum hundertsten Geburtstag von Karl Kunz, Zeughaus und Theater-Foyer, Augsburg 2007, zitiert aus Angela Dolgner, „Karl Kunz – ein deutscher Surrealist“, in: Aust.kat. Ein deutscher Surrealist. Karl Kunz 1905-1971, Retrospektive im Kunstforum Halle, 2008, S. 2–5, S. 9.

FRÜHE KÖRPER

Karl Kunz erhielt als Jugendlicher privaten Unterricht von dem Maler Gustav Schmidt, wahrscheinlich im Stile von Adolph von Menzel und Wilhelm Leibl.[1] Porträts von 1921, von denen nur Abbildungen erhalten sind, offenbaren das Talent des jungen Künstlers und seine damalige Orientierung an älteren Zeitgenossen wie Max Liebermann und Lovis Corinth.[2] Porträts sind aus seinem späteren Œuvre nicht bekannt.

Nachdem ihn die Münchener Kunstakademie 1921 abgelehnt hatte, bildete Kunz sich auf eigene Faust weiter. Begierig sog er die aktuellen avantgardistischen Strömungen der Zeit auf. Ausschlaggebend dafür war Kunz‘ gelegentlicher Unterricht an der Hans Hofmann Schule für Bildende Kunst, München. Hofmann war nach einem Aufenthalt in Paris von 1904–1914 bestens mit der französischen Moderne vertraut.[3] Ende der 1920er Jahre folgte der Umzug nach Berlin. Werke wie Masken von 1929 (im Krieg zerstört) sind repräsentativ für diese Zeit und verraten noch den von Hofmann vermittelten Einfluss Paul Cézannes.[4] Mit diesem und sechs weiteren Bildern nahm er 1928 an Hermann Sandkuhls „Juryfreien Kunstausstellungen“ im Lehrter Bahnhof teil. 1929 stellte er dort fünf Werke aus. Auf dieser viel beachteten Plattform zeitgenössischer Kunst hatte Kunz in diesen Jahren die Gelegenheit, auch die Arbeiten führender Vertreter der in Deutschland tätigen Avantgarden wie Wassily Kandinsky, Paul Klee, Alexej von Jawlensky, Oskar Schlemmer, Johannes Itten, Laszlo Moholy-Nagy, John Heartfield, George Grosz und Max Ernst kennenzulernen.[5]

Über Sandkuhl kam der junge Maler mit Erwin Hahs, Leiter der Malereiklasse an der Kunsthochschule Burg Giebichenstein in Halle (Saale), in Kontakt. Kunz zog nach Halle und wurde Hahs‘ Meisterschüler. Neben dem Bauhaus eine der wichtigsten deutschen Kunsthochschulen der Zeit, stand auch hier die Auseinandersetzung mit französischer Kunst im Fokus.[6] Die Lackarbeiten auf Holz, die Kunz Anfang der 1930er schuf, sind in der Technik von Hahs inspiriert.[7] Stilistisch erinnern sie im gleichen Maße an Hans Arps dadaistische Abstraktionen wie an die organischen Naturformen, mit denen er aus dem väterlichen Holzhandel vertraut war. Der Sprung, 1938 (im Krieg zerstört), führt diesen Interessenstrang im Gemälde weiter.

Die Arbeiten, die Kunz nach der erzwungenen Rückkehr nach Augsburg anfertigte, blieben stilistisch heterogen. Die massiven, vereinfachten Figuren der Tischgesellschaft 1935, mögen an die klassizistische Periode des schon jetzt allgegenwärtigen Pablo Picasso und die flächigen Figuren Oskar Schlemmers erinnern, die Figurengruppe um den Pierrot Am südlichen Strand, 1939, greift erneut Picasso auf, birgt aber auch Reminiszenzen zu Fernand Léger. Im Jahre des Kriegsausbruchs gemalt, verarbeitet Kunz positive Erinnerungen an reale vergangene Reisen in den Süden Europas, manifestiert aber auch die Realitätsflucht in die Comedia dell’arte, der traditionellen italienischen Stehgreifkomödie, und ein weltfremdes, im sommerlichen Hellblau erstrahlenden Arkadien. In der Der Engel, 1945, ist im scharfen Kontrast die erschütternde Kriegserfahrung unmittelbar zu spüren. Augsburg liegt in Trümmern, die Einwohner der Stadt sind auf versehrte Torsi reduziert.

Kunz künstlerische Entwicklung bis 1945 ist von rasanten Entwicklungen, kühnen Experimenten und überraschenden Synthesen geprägt. Trotz des Stilpluralismus formt sich in der Figur seine eigene, unverwechselbare Handschrift.

[1] Vgl. Angela Dolgner, „Karl Kunz – ein deutscher Surrealist“, in: Aust.kat. Ein deutscher Surrealist. Karl Kunz 1905-1971, Retrospektive im Kunstforum Halle, 2008, S. 2–5, S. 3.

[2] Vgl. ibid.

[3] Vgl. Karin Thomas, „Karl Kunz – neu entdeckt“, in: Ausst.kat, Karl Kunz (1905-1971), Antje Birthälmer, Gerhard Finck (Hg.), Von der Heydt-Museum Wuppertal, 2014, S. 14–57, S. 17.

[4] Vgl. „Biografie“, in: , München 1996, S. 13–18, S. 13.

[5] Vgl. Thomas 2014, S. 17.

[6] Vgl. Dolgner 2008, S. 3.

[7] Vgl. Ibid.

MIX&MATCH

Schnellen Schrittes jagt die Rasende Chimäre, August 1964, das feuerspeiende Mischwesen aus der griechischen Mythologie – vorn Löwe, in der Mitte Ziege und hinten Schlange – über eine trostlose Ebene. Kunz erzeugt Bewegung mit fetzenhaften, wehenden Formen und dynamischen Farbwirbeln. Das Bild erinnert stark an Max Ernsts Gemälde Der Hausengel, 1937, für Ernst das „Trampeltier“, das wie der damals wütende spanische Bürgerkrieg rücksichtslos das Land durchfegt. Kunz mag hier seine eigenen Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg verarbeiten, wobei die Grenzen zwischen der Zerstörung der äußeren Welt und der aufgewühlten inneren Seelenlandschaft verschwimmen.

Kunst hat sich schon immer an anderer Kunst orientiert. Kunstschaffende aller Epochen von Rembrandt van Rijn, Éduard Manet, Gabriele Münter bis Cindy Sherman arbeiten bis heute hin und wieder im Stil ihrer Kollegen oder Kolleginnen, oder übernehmen gar deren Motive. Für Karl Kunz sind Aneignungen und Entlehnungen in allen Phasen seiner Karriere ein entscheidendes Stilmittel. So zitiert er Figuren aus dem Gemälde Ein Sonntagnachmittag auf der Insel La Grande Jatte, 1884-86, des Post-Impressionisten Georges Seurat in Spaziergang, Januar 1941, und die bunten Pop Art Ästhetiken eines Roy Lichtenstein in Stillleben, Januar 1970. Oft hallen in einem Gemälde Referenzen zu mehreren Künstlern wider. In Dame um 1900, Mai 1951, begegnen sich Pierre Bonnards Ornamente mit Henri Matisses Kompositionen. Das Motiv ist allerdings auch ein Paradebeispiel für Kunz‘ fotografische Entlehnungen – die Pose der Figur entstammt einem italienischen Modemagazin.[1]

1937 besuchte Kunz die von den Nationalsozialisten organisierte Ausstellung „Entartete Kunst“ in den Münchner Hofgartenarkaden.[2] Was aus der Sicht der nationalsozialistischen Propaganda künstlerische Positionen und Stile zusammenbrachte, die zu verachten und zu unterbinden waren, war für andere eine letzte Möglichkeit, Spitzenwerke der Moderne zu sehen. Ernsts surrealistisches Gemälde Die schöne Gärtnerin, 1923 (verschollen), das in München ausgestellt wurde, beeindruckte Kunz so sehr, dass er es wiederholt in Arbeiten der 1940er, wie etwa Pomona, 1943, aufgriff.[3] Neben Ernst spiegelt sich in diesem Gemälde auch Pablo Picassos klassizistische Stilperiode. Kunz’ intensive Auseinandersetzung mit dem spanischen Künstler hallt besonders deutlich in Krieg, November 1942, wider (in der Biografiesektion der Ausstellung zu sehen), das Picassos berühmtes Gemälde Guernica von 1937 referenziert. Guernica zeigt den Schrecken der Bombardierung der gleichnamigen baskischen Stadt durch die deutsche Luftwaffe im spanischen Bürgerkrieg. Mitten im Zweiten Weltkrieg gemalt, setzt Kunz mit Krieg über den Umweg der Aneignung ein deutliches politisches Signal. Kunz, der Guernica wiederholt aufgriff, kannte das Gemälde wahrscheinlich aus nationalsozialistischen Zeitschriften, die es in diffamierender Absicht auf der Pariser Weltausstellung 1937 abbildeten.[4]

Anfangs kann Kunz als Autodidakt von seinen Vorbildern lernen. Später bezieht Kunz sich gezielt auf bestimmte Inhalte. Er zieht neue Verbindungslinien zwischen unterschiedlichen Stilen und Einzelpositionen und verbindet aus anderen Werken entnommenes mit seiner eigenen Lebenserfahrung. Mit Bezügen zu der Kunst der Kriegsgegner baut er während und nach dem Krieg eine Gegenwelt zur nationalsozialistischen (Kunst-)Politik auf.[5]

[1] Vgl. Karin Thomas, „Karl Kunz – neu entdeckt“, in: Ausst.kat, Karl Kunz (1905-1971), Antje Birthälmer, Gerhard Finck (Hg.), Von der Heydt-Museum Wuppertal, 2014, S. 14–57, S. 48.

[2] Vgl. ibid, S. 16.

[3] Vgl. ibid.

[4] Vgl. ibid, S. 26, etwa „Entartete Kunst auf der Pariser Weltausstellung. Picasso und Gutfreund, zwei Leuchten des Kulturbolschewismus“, Niedersächsische Tageszeitung, Hannover, 2. September 1937.

[5] Karin Thomas im Gespräch, Oktober 2025.

BEZIEHUNGSGEFLECHTE

Das Gruppenbild ist seit jeher die große Kunst der Figurenmalerei. Wie arrangiert man Personen auf der Leinwand, um Beziehungen und Geschichten auszudrücken? Auch Kunz stellt sich dieser Herausforderung: Jahrmarkt- und Zirkusszenen, Maskenzüge, Akrobatengruppen und Tanzende sind fester Bestandteil seines Bildprogramms. In Jahrmarktparade, Juni 1950, ist das bunte Treiben – das Lied der Sängerin, die Kunststücke der Artisten – förmlich spürbar.

Oft wirken seine Figuren, eher nebeneinander als ins Bild hinein platziert, in einem Bildraum, der sich auf die Tiefe einer Bühne zu beschränken scheint, wie Charaktere in den Kulissen eines Theaterstücks. Dessen Inhalt bleibt uns meist verwehrt. In Die lustigen Weiber, November 1961, liefert der Titel einen Hinweis. In William Shakespeares Komödie Die lustigen Weiber von Windsor (1602), das auch die Grundlage für eine Oper von Guiseppe Verdi liefert (Falstaff, 1893), versucht der Liebesschwindler Falstaff, zwei Frauen um ihr Geld zu bringen. Er wird jedoch von ihnen entlarvt und in verschiedene Fallen gelockt. Bei Kunz scheint sich eine solche Falle in eine äußerst bedrohliche, sexuell aufgeladene Situation zu verwandeln.

Kunz übernimmt bekannte Geschichten, deutet sie jedoch auf seine eigene Weise um. Nicht immer lassen sich die Szenen vollumfänglich enträtseln. Golgatha, April 1966, scheint sich weniger auf die biblische Geschichte Jesu Kreuzigung zu beziehen – nur wenige Elemente weisen im Gemälde darauf hin – sondern formt sich neu zu einer allgemeinen Allegorie für eine zerstörerische, lebensbedrohliche Situation.

Die Figuren in diesen Gruppenkonstellationen tragen dazu ihr übriges bei. Auch in Gesellschaft bleiben Kunz‘ Figuren oft allein und anonym. Sie bestehen dann aus abstrahierten Körperfragmenten, besitzen keine Gesichtszüge, Blickkontakt und Interaktion bleiben aus. Eine Ausnahme bildet die wiederholt auftauchende Figur des Harlekins, angedeutet in Tischgesellschaft, Dezember 1941, die als Alter Ego des Künstlers gedeutet wird.[1] Doch auch wenn der Harlekin präsent ist, dominieren ein kaum assoziatives Miteinander, emotionale Distanz und das Fehlen echter Nähe viele von Kunz‘ Gruppenbilder. Kommentiert der Maler eine im Zweiten Weltkrieg aus den Fugen geratene Gesellschaft? Bildet er sein Innenleben ab?

Einsamkeit und Isolation sind in Kunz‘ Leben immer wieder und mit unterschiedlicher Konnotation präsent. In den Kriegsjahren dient das kleine, entlegene Haus im Wald nahe Augsburg für die junge Familie und den ambitionierten Künstler als Rückzugsort vor den Schrecken des Krieges und der nationalsozialistischen Kulturpolitik.[2] Hier kann sich Kunz entfalten. So kann man die in dieser Zeit auftauchenden Figuren aus der Commedia dell’arte, wie den immer wiederkehrenden Pierrot und den Harlekin, als Gegenentwurf zum Kitsch und Pathos nationalsozialistischer Kunst sowie deren eindimensionalen Menschenbildern lesen.[3]

Zunehmend enttäuscht und desillusioniert von seinem fehlenden Erfolg in der deutschen Nachkriegskunstszene, an die er keinen Anschluss mehr findet, vereinsamt Kunz in Frankfurt in den 1960ern zunehmend.[4]

[1] Vgl. Karin Thomas, „Karl Kunz – neu entdeckt“, in: Ausst.kat, Karl Kunz (1905-1971), Antje Birthälmer, Gerhard Finck (Hg.), Von der Heydt-Museum Wuppertal, 2014, S. 14–57, S. 53.

[2] Ibid, S. 22.

[3] Vgl. ibid.

[4] Vgl. ibid, S. 49.

TRAUMGESTALTEN

Auf seinen Leinwänden schuf Karl Kunz oft unwirkliche Raumsituationen. Die Grenzen zwischen Außen und Innen verschwimmen, die Beleuchtung unterliegt ebenso wenig den Naturgesetzen wie die Perspektive. Die Figuren selbst sind unvollständig, bestehen lediglich aus Körperfragmenten, die ihre Eigenständigkeit behalten oder für deren Zusammensetzung die Regeln der Anatomie nicht gelten. Mancherorts begegnen wir fantastischen Kreaturen, die ganz und gar dem Reich der Träume entsprungen scheinen. Auch sehen sich Kunz‘ Figuren in aberwitzige Szenerien eingebunden: In Akrobaten mit Verkehrszeichen, März 1964, begegnen Artisten auf einer Bühne einem Vorfahrtsschild, der Schirm der titelgebenden Röntgenmaschine, Juni 1955, zeigt nicht das Innere des Körpers, und überhaupt fehlt die das Bild hervorrufende Figur. Parade der Irrtümer, April 1953, versammelt eine absurde Menagerie an Figuren und Figurenfragmenten, die vergeblich ihren Platz in der Komposition und ihren Bezug zueinander zu suchen scheinen.

All dies ist typisch für den Surrealismus. Der Surrealismus war eine literarische und künstlerische Bewegung, die sich in den frühen 1920er Jahren aus dem Pariser Dada entwickelte. Neben André Breton, dem Verfasser des Ersten Surrealistischen Manifests (1924), waren unter anderem André Masson, Louis Aragon, Antonin Artaud, Man Ray, Luis Buñuel, Meret Oppenheim, Dorothea Tanning, Max Ernst und Jean Arp Mitglieder der Bewegung. Inspiriert unter anderem von den psychoanalytischen Theorien von Sigmund Freud, ist für den Surrealismus das Unbewusste der Dreh- und Angelpunkt allen kreativen Schaffens. Dies manifestiert sich in der traumartigen, inkongruenten Kombination von Motiven aber auch in Techniken wie der Écriture automatique, die das Ziel haben, die vom Intellekt gesteuerte Kontrolle von Gedanken und Handlungen zu umgehen.

Die Beschreibung eines jungen Mannes aus dem Prosagedicht Les Chants de Maldoror (1868) des französischen Dichters Lautréamont diente den Surrealismus als wichtiger Bezugspunkt: „Er ist schön wie das zufällige Zusammentreffen einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch!“[1] Kunz kam wahrscheinlich schon früh mit surrealistischen Tendenzen in Kontakt. Max Ernst kannte er spätestens seit den „Juryfreien Kunstschauen“ in Berlin Ende der 1920er. Kunz‘ Nähe zum Surrealismus wurde in der Nachkriegszeit als eines seiner herausragendsten Charakteristika wahrgenommen. 1954 vertrat er neben Oskar Schlemmer, Paul Klee, Edgar Ende, Rudolf Schlichter, Marc Zimmermann, Leo Cremer und Heinz Battke Deutschland auf der 27. Biennale in Venedig, die in diesem Jahr unter dem Oberthema „Surrealismus“ stattfand. Das Gemälde Karneval, März 1949, in dieser Ausstellung in der Sektion „Am Rande der Abstraktion“ zu sehen, war in Venedig ausgestellt.

Der Surrealismus inspirierte im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts eine Vielzahl an künstlerischen Einzelpositionen von Francis Bacon bis Paula Rego und Gruppen wie COBRA und die Situationistische Internationale. Die Definition des Begriffs wurde beständig erweitert und weiterentwickelt. Die Kunsthistorikerin Juliane Roh schreibt 1971 „[d]er Kunzsche Surrealismus ist zerebraler als die Traumkombinatorik seiner Vorläufer. Er schafft Bilderrätsel, die nicht nur als Traumwelt hinzunehmen sind, sondern zu Deutung und Entschlüsselung auffordern.“[2] Für Kunz bietet er die Möglichkeit, sein volles kreatives Potenzial auszuschöpfen und persönliche Erfahrung mit gesellschaftlichen Traumata zu verbinden, ohne diese bildlich ausbuchstabieren zu müssen.

[1] Comte de Lautréamont, Les Chants de Maldoror, Paris 1868, 6. Gesang, 3. Strophe.

[2] Juliane Roh, Deutsche Kunst der 60er Jahre. Malerei, Collage, Op-Art, Graphik, München 1971, S. 38.

EROS

Erotik und Sexualität sind besonders ab den 1960er Jahren bestimmende Elemente in den Werken von Karl Kunz. Der Bund Bildender Künstler bot im Museum Karmeliten Kloster in Frankfurt eine Möglichkeit zum Aktzeichen, die Karl Kunz ab 1960 wöchentlich wahrnahm.[1] Dort fertigte er unzählige Zeichnungen an, in denen er die weibliche Anatomie in naturnahen, wenn auch raschen Kohle- und Bleistiftzeichnungen festhielt. Vielleicht dienten diese Zeichnungen als Ideengeber für seine Gemälde, doch unterscheiden sie sich von ihnen grundlegend: In den Ölbildern begegnen sich wilde erotische Fieberträume, in Ekstase zuckendes Fleisch, eindeutig doppeldeutige organische Formen und zergliederte Körper in einschlägigen Posen. Ein charakteristisches Motiv sind die schwarzen, hochhackigen, bis über das Knie reichenden Stiefel.

Kunz reduziert seine Figuren oft auf isolierte anatomische Elemente, denen die Individualität fehlt. Die sexuellen Fantasien bleiben so unspezifisch – das Verlangen nach einer bestimmten Person ist nicht gemeint. Der Trieb, die Leidenschaft, die Begierde, der Fetisch und das Lustspiel selbst stehen im Mittelpunkt. „Diese Bilder sind reiner Exhibitionismus. Aber sie sind auch eine Aufgabe. Für mich gibt es kein Tabu. Meine schwarzen Messen haben meinen Passions- und Golgathabildern entgegenzustehen, meine wüsten den elegischen Bildern,“[2] schreibt Kunz 1965 an seine Freundin Renate Axt.

Leidenschaft und Sinnlichkeit sind konstante Themen in der Kunstgeschichte. Bis in das 19. Jahrhundert hinein wurden gerne mythologische oder biblische Geschichten als Anlass für erotische Abbildungen herangezogen. Die biblische Geschichte der Susanna im Bade etwa wurde von einer Vielzahl von Künstler:innen von Artemisia Gentileschi, Rembrandt van Rijn bis Lovis Corinth mit den unterschiedlichsten Konnotationen auf die Leinwand gebracht. Mit dem Aufkommen psychoanalytischer Theorien im 20. Jahrhundert, insbesondere auch denen Sigmund Freuds, änderten sich künstlerische Zugänge. Für den Surrealismus, dem auch Kunz nahestand, war die Erkundung und Erforschung der Sexualität – auch in expliziten Darstellungen – eine wichtige Triebfeder, bei der oft auch Rollenbilder sowie Geschlechter- und Machtverhältnisse ausgelotet wurden.

[1] Vgl. Karin Thomas, „Karl Kunz – neu entdeckt“, in: Ausst.kat, Karl Kunz (1905-1971), Antje Birthälmer, Gerhard Finck (Hg.), Von der Heydt-Museum Wuppertal, 2014, S. 14–57, S. 49.

[2] Brief vom 23. Oktober, zitiert aus Thomas 2008, S. 51.

AM RANDE DER ABSTRAKTION

1965 erklärte der deutsche Kunsthistoriker Werner Haftmann die Abstraktion zur Weltsprache der Kunst.[1] Mit einem Fokus auf der politisch unbelasteten ungegenständlichen Kunst wurde vermieden, sich mit der Verfemung und der Unterbrechung in der Entwicklung moderner figurativer Tendenzen zwischen 1933 und 1945 auseinanderzusetzen. Die deutsche Nachkriegskunstszene orientierte sich vor allem am Informel und dem Tachismus in Frankreich, aber auch amerikanische Strömungen wie der abstrakte Expressionismus und die Farbfeldmalerei gewannen an Einfluss. Populär waren deutsche abstrakte Maler wie Ernst Wilhelm Nay und Willi Baumeister. Kunz‘ Bilderwelten sind weiterhin gegenständlich. Zwar ist er damit nicht allein – auch Maler wie Werner Heldt, Willem Grimm, und die Künstler, die mit ihm auf der Biennale 1954 in Venedig gezeigt wurden, arbeiteten figurativ, doch wurde dies vom damaligen Kunstbetrieb letztendlich als veraltet eingestuft.

Dabei bewegten sich Kunz‘ Figuren schon immer am Rande der Abstraktion und flirteten – durchaus zeitgemäß – mit der Ungegenständlichkeit. Mal stärker ausgeprägt, mal schwächer, kann der Grad der Abstraktion innerhalb einer Komposition variieren. Die Darstellung der Figuren auf Kunz‘ Leinwänden stützt sich auf die Umrisslinie. Diese „Melodie der reinen Linie“ verbindet ihn aus der Sicht des Kunsthistorikers J.A. Schmoll gen. Eisenwerth mit den Malern Johann Heinrich Füßli, William Blake, Aubrey Beardsley und Gustav Klimt, wohingegen ihn die schwarzen Konturen an Max Beckmann und Kunz‘ Farbgebung an die Künstler des Blauen Reiters erinnert.[2] Überwiegend verzichtet Kunz auf malerische Techniken, die in Gemälden den Eindruck einer naturnahen Abbildung erwecken: Seine Figuren sind selten mit Farbschattierungen dreidimensional gearbeitet, perspektivische Verkürzungen sind nicht die Regel. Auch anatomische Details, wie Muskelstränge oder Hautfalten fehlen den Figuren. Innerhalb der Silhouette reduzieren sie sich auf einheitliche Farbflächen. Im Raum werfen sie keine Schatten, als seien sie wie Teile einer Collage auf der Bildoberfläche aufgebracht. Manchmal, wie in Furie, Oktober 1963, lösen sie sich in gestischen Farbströmen auf. Dem Inhalt des Gemäldes entsprechend, tauscht Kunz hier scherenschnittartige Statik gegen energetische Bewegung aus. Auch die kalligraphisch anmutende Überlängung der Gliedmaßen und deren Auslaufen im Nichts sind typisch für Kunz. Er entwickelte somit eine ganz eigene, wiedererkennbare Formensprache.

Trotzdem gleiten seine Gemälde nie vollständig in die Abstraktion ab. Bezeichnenderweise gehen auch ungegenständliche Elemente in seinen Werken auf Vorbilder aus der Natur zurück, die er in seinen Gemälden transformiert.[3] Bei Bergtouren in den Alpen beobachtete Kunz vom Wind verformte Bäume, knorrige Wurzeln, Astlöcher und Aststümpfe, die seine Fantasie anregten.[4] Gleiches gilt für die verwitterten Sandsteinplatten und Grabsteintrümmer des Friedhofs St. Peter, der nahe seinem Atelier in Frankfurt lag.

[1] Werner Haftmann, Malerei im 20. Jahrhundert, München 1954.

[2] J. A. Schmoll gen. Eisenwerth, „Zu den Bildern von Karl Kunz“, S.3–5 in Karl Kunz, Lagerkatalog 39, Ketterer München 1967, S. 5.

[3] Vgl. ibid, S.3.

VANITAS

In den frühen 1960er Jahren reiste Karl Kunz nach Paris und besuchte die Schlachthäuser und den Fleischmarkt im Stadtteil in La Villette, wo bis Mitte der 1970er Jahre im industriellen Maßstab Schlachtvieh getötet und verarbeitet wurde. Dort zeichnete er Tierkadaver, die sich ästhetisiert und stilisiert in seinen Gemälden wiederfinden. Der französische Philosoph Gilles Deleuze erklärte das Fleisch zur „Zone von Ununterscheidbarkeit, Unentscheidbarkeit“ zwischen Mensch und Tier und der britische Maler Francis Bacon wunderte sich seiner eigenen Aussage nach jedem Mal, wenn er einen Fleischerladen betrat, warum nicht er dort am Haken hinge.[1] Sicher gab es auch für Kunz nur wenige Orte, an denen die eigene Sterblichkeit deutlicher spürbar wurde – zumal sich in den 1960er Jahren seine Gesundheit zusehends verschlechterte. Im Dezember 1965 schreibt er an seinen Freund Heinz Menzel: „Zu viel Krankheit. Man wird alt. Es geht nur noch mit halber Kraft. Aber die Bilder sind immer noch heftig. Dampfkessel, wie Du geschrieben hast. Kurz am Explodieren.“[2]

Schweine- oder Rinderhälften kommen als Bildelemente in Werken wie Dreiklang, Mai 1962, vor, doch ist die Vanitas – die Nichtigkeit und Vergänglichkeit des Lebens – vielen Werken Kunz‘ auch ohne die Verwendung dieses Motivs eingeschrieben. Der Tod ist der Schatten des Lebens und somit auch dort präsent, wo es sich in üppiger und wollüstiger Fleischlichkeit manifestiert. Besonders die haptischen, dreidimensional gearbeiteten Figuren, wie etwa in Im Frauenhaus, Dezember 1963, bergen überbordende Lebensfreude und Vitalität ebenso wie das Wissen über das unausweichliche Ende. Warten, aus dem Mai 1963, entstand unter dem Eindruck von Kunz‘ Reisen durch Italien, das mit architektonischen Details historischer italienischer Fassaden in den Werken der Zeit vertreten ist. Dort besuchte er unter anderem Venedig, das einstige reiche, strahlende, internationale Machtzentrum, dessen Prachtgebäude heute langsam in den Gewässern der Lagune versinken, und das sicher auch Kunz mit seinem morbiden Charme berührte.

Mit Warten hat Kunz ein Sinnbild für die Vanitas geschaffen. Das bunte Treiben der Stadt ist zu Grau und Schwarz geworden. Eine Aktfigur schreitet auf eine Türöffnung zu, hinter der sich im Dunkeln des Hauses nur noch schemenhaft eine zweite Figur erahnen lässt: Leben als Schwelle zum Tod.

[1] Gilles Deleuze, Francis Bacon. Logik der Sensation, (Paris 1984) München 1995, S. 20, vgl. David Sylvester, Gespräche mit Francis Bacon, (London 1987), München/New York 1997, S. 46.

[2] Zitiert aus Karin Thomas, „Karl Kunz – neu entdeckt“, in: Ausst.kat, Karl Kunz (1905-1971), Antje Birthälmer, Gerhard Finck (Hg.), Von der Heydt-Museum Wuppertal, 2014, S. 14–57, S. 53.